Schweden - Sonderweg im Einklang mit internationalen Regeln

Corona Boell

Konsensbestreben, Neoliberalismus und Volksgesundheit

Volodya Vagner

Im Zuge der Corona-Pandemie ist Schweden einen Sonderweg gegangen. Die „schwedische Strategie” bestand darin, andernorts durchgesetzte, harte Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung zu vermeiden und wird seitdem nicht zuletzt im Ausland kontrovers debattiert. Obwohl die Anzahl der Corona-bedingten Todesfälle pro Kopf in Schweden bisher weit über der in den nordischen Nachbarländern und auch in Deutschland liegt, hat dies im Land bisher nicht dazu geführt, die Gesamtstrategie zu revidieren. Eher lässt sich von einer Abrechnung mit einzelnen gesellschaftlichen Schwachpunkten sprechen. Eine zugespitzte Politisierung der Strategiedebatte ist bisher kaum zu bemerken.

Instabile Koalitionsregierung

Schweden wird seit der Parlamentswahl 2018 von einer Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten, Grünen, Zentrumspartei und Liberalen regiert. Während die ersten beiden zum linken Lager gehören, sind letztere wirtschaftsliberal ausgerichtete, und hatten bis dahin zum bürgerlichen Block der schwedischen Politik gehört. Der Bruch mit dem etablierten Blocksystem, der die jetzige Regierung hervorbrachte, kam zustande, nachdem die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit knapp 18% ihr bislang stärkstes Ergebnis einfuhren. Um diese von der Regierungsmacht fern zu halten, einigten sich die jetzigen Regierungsparteien auf ein Koalitionsprogramm, welches die neoliberale Wirtschaftspolitik der Zentrumspartei und der Liberalen in großen Teilen übernahm. Die Schwedendemokraten bilden nun zusammen mit der größten bürgerlichen Partei, den Moderaten, und den konservativen Christdemokraten die rechte Opposition, die aber um die Regierung blockieren zu können, auf die Linkspartei angewiesen wäre.

Vor der Pandemie wurde die politische Debatte vor allem von den Themen Migration, Kriminalität und Sozialpolitik geprägt. Während es den rechten Oppositionsparteien besonders in den ersten beiden Bereichen gelang, die Regierung unter Druck zu setzen, konnte die Linkspartei etwa mit Kritik gegen gewinntreibende Konzerne im Schul-, Sozial- und Gesundheitswesen punkten. Einige der größten sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen sind Jugendarbeitslosigkeit, Wohnraummangel und soziale Segregation in den Großstädten. Diese Debatten wurden von der Corona-Krise, zumindest vorerst, an den Rand gedrängt.

Deregulierung im Gesundheitswesen

Das schwedische Gesundheitssystem basiert auf einem steuerfinanzierten Bürgerversicherungsmodell. Die Verantwortung dafür obliegt in erster Linie den 21 schwedischen Regionen. Wie in fast allen gesellschaftlichen Bereichen wurde seit den 80er Jahren auch im Gesundheitswesen eine konsequente Privatisierungs- und Deregulierungspolitik betrieben. Das staatliche Apothekenmonopol, das bis dahin zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung diente, wurde 2009 abgeschafft. Staatliche Vorräte an Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung wurden stark dezimiert. Von der öffentlichen Hand betriebene Kliniken und Pflegedienste unterliegen ebenfalls einem „Effektivitätszwang“. Tatsache ist, das Gesundheitswesen leidet an einem allgemeinen Mangel an Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen, sowie an langen Wartezeiten.

Volksgesundheit als Leitgedanke

Schwedens „lockerer“ Umgang mit der Corona-Pandemie hat weltweit viel Aufsehen erregt, ist allerdings häufig missverstanden worden. Fakt ist, dass Schweden im Gegensatz zu vielen anderen Ländern nie einen Lockdown, Ausgangssperren oder vergleichbar radikale, zwingend vorgeschriebene Maßnahmen verordnet hat. Gastronomie-Betriebe mussten nie komplett schließen, Kindergärten blieben offen und der Schulunterricht für jüngere Kinder (bis zur 9. Klasse) lief weiter wie gehabt.

Diese Vorgehensweise lässt sich teilweise durch die in Schweden relativ unabhängige Stellung der von Expert*innen geleiteten Behörden erklären. So gab bisher die Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten, FHM) den Ton an, während die Regierung sich größtenteils auf die Ausführung der von dort empfohlenen Maßnahmen beschränkte, und nicht darüber hinaus aktiv wurde. Chefepidemiologe Anders Tegnell verkörperte das Corona-Krisenmanagement, während Gesundheitsministerin Lena Hallengren und Ministerpräsident Stefan Löfven sich eher im Hintergrund hielten. Die Konstellation der Regierungskoalition und die parlamentarische Gesamtlage spielten demnach für die Entscheidungsfindung in der Krisenbewältigung eine eher geringe Rolle.

In diesem Sinne unterscheidet sich der schwedischen Sonderweg entschieden von dem anderer Länder, die damit auffielen, keine oder weniger drastische Anti-Corona-Maßnahmen verhängt zu haben. Während etwa in den USA oder in Belarus die Gefahr des Virus von der politischen Führung generell in Frage gestellt wurde, stand dies in Schweden nicht zur Debatte. Als offizieller Leitgedanke galt stattdessen, dass getroffene Einschränkungen die langfristige, gesamtgesellschaftliche Gesundheitslage („Folkhälsan“, wörtlich: Volksgesundheit) nicht mehr beeinträchtigen sollten als unbedingt notwendig. Beispielsweise erfolgte der Hinweis auf zu erwartende langfristige Gesundheitsschäden bei Kindern in Folge von eventuellen Schulschließungen. Auch gab es Warnungen, wonach ein harter Lockdown schwerwiegende gesellschaftliche Verwerfungen verursache, die wiederum die Gesundheit der Bevölkerung langfristig beeinträchtigen würden.

Gleichzeitig waren die zuständigen schwedischen Behörden durchaus darauf bedacht, die Verbreitung des Virus bestmöglich zu verlangsamen, doch basierte ihr Vorgehen auf der Überzeugung, dass dies weniger durch Zwang, als durch Appelle an den Zusammenarbeitswillen der Bevölkerung zu erreichen wäre. In der ersten Ansteckungswelle im Frühjahr schien diese Strategie zumindest insofern teilweise aufzugehen, als dass die Mobilität der Bevölkerung tatsächlich markant zurückging, wenngleich weniger signifikant als in den Nachbarländern. Keinesfalls stimmt, dass der Alltag in Schweden trotz Pandemie unbehindert weiterging. Auch die in der ausländischen Berichterstattung wiederkehrende Darstellung, dass Schweden auf Herdenimmunität mittels unbehinderter Ansteckung gesetzt hätte, ist so nicht richtig. Eine eventuelle Herdenimmunität wurde zwar als möglicher positiver Nebeneffekt einer weniger interventionistischen Strategie betrachtet, war aber nicht der eigentliche Leitgedanke.

Kritik, wonach die schwedischen Behörden zu schwach auf die Krise reagieren würden, wiesen die Verantwortlichen des Weiteren immer wieder zurück. Ihr Vorgehen stünde im Einklang mit international abgestimmten Empfehlungen zum Umgang mit solchen Situationen, in denen etwa generelle Grenzschließungen nicht vorgesehen seien, wie sie im Frühjahr weltweit Realität wurden. Manche der in anderen Ländern durchgesetzten härteren Eindämmungsmaßnahmen seien demnach von eher kurzsichtigem politischem Kalkül geleitet und nicht wissenschaftlich belegt.

Vergleicht man die schwedische Haltung zur Pandemie mit der in Kontinentaleuropa aus einer ideologischen Perspektive, fällt besonders eine Dynamik ins Auge: Während Schweden beim Umgang mit einer Reihe anderer gesellschaftlicher Problembereiche – besonders dem Handel mit Alkohol, Drogen und sexuellen Dienstleistungen – traditionell eher auf staatlichen Interventionismus, statt, wie etwa in Deutschland der Fall, auf verantwortliches Handeln mündiger Bürger*innen setzt, war dies in Bezug auf die Herausforderungen der Corona-Krise genau umgekehrt. Wie sich diese markante Umkehrung der bisherigen Praxis erklären lässt, ist schwer zu beantworten. Bestenfalls lassen sich Thesen formulieren, denen jedoch die Beweiskraft fehlt. Betrachtet man die schwedische Variante der Pandemie-Bekämpfung als Äußerung neoliberaler Governance-Ideologie, derzufolge Verantwortung nicht dem Kollektiv, sondern dem Individuum übertragen werden sollte, ließe sich die jeweilige Herangehensweise als Zeichen deuten, wonach diese Ideologie in Schweden stärker zum Tragen käme als in anderen Ländern. Demnach wäre Schwedens interventionistischer Ansatz in anderen Gesellschaftsbereichen nur ein Überbleibsel vergangener Zeiten. Ein anderer Erklärungsansatz stellt in den Fokus, dass Schweden sich von anderen Ländern durch einen ausgeprägten utilitaristischen nationalen Korporatismus unterscheide, demzufolge polizeiliche Intervention zur Bekämpfung “moralischer Übel” wie Drogenkonsum und Prostitution legitim seien, während eine eher als Naturkraft empfundene Pandemie starke Eingriffe in das Leben aller, selbst zum Schutz einzelner Leben, nicht rechtfertige.

Während in anderen Ländern über die Wahrung bürgerlicher Freiheiten und Ängste um die Ausweitung staatlicher Überwachung als Argument gegen Pandemie-Maßnahmen diskutiert werden, ist dies in Schweden bisher kein Thema. Angesichts der in Schweden eher schwach ausgeprägten Überwachungskritik, wäre dies selbst bei einer aggressiveren staatlichen Interventionspolitik wohl kaum als so inhärent problematisch empfunden worden, wie etwa in Deutschland.

Ausgehend von der gesellschaftlichen Debatte um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie genießen die Gesundheitsbehörde, die politische Führung, und die Krisenstrategie an sich nach wie vor relativ breiten Rückhalt. Gleichzeitig wird die Anzahl der Todesopfer, die im Verhältnis zur Bevölkerung weit über der in den nordischen Nachbarländern liegt, durchaus als Anzeichen für ein Scheitern betrachtet. Diese vermeintlich widersprüchliche Haltung lässt sich mit mehreren Faktoren erklären. Zum einen ist die schwedische politische Kultur von einem starken Konsensbestreben geprägt. Gleichzeitig fällt das Vertrauen der schwedischen Bevölkerung in den Staat und die Behörden generell relativ hoch aus. In der öffentlichen Debatte wurde infolgedessen bisher weniger die Gesamtstrategie kritisiert, als einzelne strukturelle Schwachstellen und Versagen, die den Erfolg dieser beeinträchtigt hätten.

So haben linke Kritiker*innen etwa die Prekarisierung bestimmter Teile des Arbeitsmarktes thematisiert. Dieser Kritik zufolge sei etwa die hohe Todesrate, besonders im traditionell bürgerlich regierten Raum Stockholm, auf die Tatsache zurückzuführen, dass insbesondere Beschäftigte im Pflegebereich, der Taxibranche und dem öffentlichen Nahverkehr oft schlecht bezahlt und in unsicheren Arbeitsverhältnissen tätig seien. Daher sahen sie sich gezwungen auch bei Vorliegen von Krankheitssymptomen weiterzuarbeiten, was die Verbreitung des Virus beförderte. Nachdem eine Untersuchung der schwedischen Aufsichtsbehörde für das Gesundheits-, Pflege- und Betreuungswesen (IVO) im November zu dem Schluss kam, dass die Regionen dabei versagt hätten, den Bewohner*innen von Altenheimen angemessene individuelle medizinische Betreuung zukommen zu lassen, werden besonders die Zustände in der Altenpflege diskutiert. Nach Medienrecherchen, deren Ergebnisse nahelegen, dass der Ausbau von Testkapazitäten in Schweden nur stockend voran ging, fand auch die anscheinend mangelnde Koordination zwischen Regionen, Zentralstaat und Gesundheitsbehörde Platz in der Tagesordnung.

Eine Politisierung der Strategiedebatte, wie sie in vielen anderen Ländern zu beobachten ist, blieb in Schweden aber bisher aus. Zwar hatte sich die bürgerlich-liberale Tageszeitung, das schwedische Leitmedium Dagens Nyheter kritisch gegenüber der Gesamtstrategie positioniert und im Frühjahr einen viel diskutierten Beitrag von 22 Forscher*innen veröffentlicht, in dem ein Umdenken in Richtung härterer Maßnahmen gefordert wurde. Ansonsten sind die verschiedenen politischen Lager bezüglich der Gesamtstrategie jedoch eher jeweils intern gespalten. Dies trifft auch auf das Rechtsaußen-Lager zu, wo darüber gestritten wird, ob die vermeintliche Verschwörung darin bestünde, dass die Pandemie ein Bluff sei, oder ein Mittel, um die schwedische Bevölkerung zwecks „Umvolkung" kaltblütig zu dezimieren. Eine bedeutende Querdenkerbewegung, die die nationale Strategie gezielt zu untergraben versucht, gibt es nicht. Diese Tatsache an sich könnte als Teilerfolg der offiziellen Strategie gedeutet werden, wonach gesellschaftlicher Zusammenhalt als langfristig entscheidender Faktor für die Volksgesundheit betrachtet wird.

Im Laufe der zweiten Corona-Welle im Herbst erfolgte eine gewisse Anpassung der schwedischen Strategie an das Vorgehen anderer Länder. So tritt Premierminister Löfven nun etwas mehr in den Vordergrund und einige der bereits geltenden Auflagen wurden verschärft. Beispielsweise wurde im November die maximale Teilnehmeranzahl bei anmeldungspflichtigen öffentlichen Veranstaltungen von seit dem Frühjahr geltenden 50, auf nunmehr 8 Personen gesenkt. Auch der Ausschank von Alkohol nach 22 Uhr unterliegt nun einem Verbot. Von einer entschiedenen Abkehr von der ursprünglichen Strategie kann entgegen der Wahrnehmung im Ausland allerdings keine Rede sein. Eher erscheinen die mit Nachdruck erfolgten öffentlichkeitswirksamen Statements als logischer Schritt, um die Dringlichkeit der bestehenden Anti-Corona-Maßnahmen ins Bewusstsein zu rufen und die individuelle Umsetzung seitens der Bevölkerung weiterhin zu garantieren. Da die offizielle Corona-Bekämpfungsstrategie auch die Risiken eventueller Langzeitfolgen von Einschränkungen in Betracht zieht, kann deren Erfolg ohnehin erst nach mehreren Jahren anhand von Indikatoren wie durchschnittlicher Sterblichkeitsraten voll ermessen werden.

Sozialstaatliche Maßnahmen

Um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern, hat Schweden, wie auch seine nordischen Nachbarländer, noch im Frühjahr eine Reihe von Hilfsprogrammen auf den Weg gebracht. Diese kosten den Staat ungefähr 19 Milliarden Euro, was etwa 8 % des Staatshaushalts entspricht. Zu diesen zeitlich begrenzten Maßnahmen gehören unter anderem die Erweiterung eines staatlich subventionierten Kurzarbeitsmodells, Zahlungen an Kleinunternehmer*innen mit starken Umsatzeinbrüchen, Senkungen der Lohnnebenkosten und die Teilübernahme von Gewerbemieten in Fällen, in denen Vermieter*innen wegen Corona-bedingter Umsatzeinbußen, Mietnachlässe gewähren.

In diesem Zusammenhang wurde das sozialpolitische Austeritätsparadigma in einzelnen Bereichen vorübergehend gelockert, wie etwa hinsichtlich Kontrollmechanismen bei Krankschreibungen und der Auszahlung von Arbeitslosenhilfe. Verglichen mit den norwegischen und dänischen Hilfspaketen ist der schwedische Staat bislang nicht durch Großzügigkeit aufgefallen. Inwiefern die Pandemie eine Abkehr von neoliberalen Paradigmen in der Gesundheits- oder Sozialpolitik nach sich ziehen könnte, bleibt vorerst offen. Da die instabile Regierung auf einem relativ marktliberalen Koalitionsvertrag basiert, scheint eine Stärkung der öffentlichen Hand kurzfristig eher unwahrscheinlich.

Selbstorganisierung von links

In der Anfangsphase der Pandemie unternahmen außerparlamentarische gesellschaftliche Kräfte unterschiedliche Versuche zur solidarischen Selbstorganisierung. Sogenannte maker spaces produzierten Schutzausrüstung, um Versorgungsengpässe zu beheben. Der schwedische Mieterbund und die linksradikale Bewegung Allt åt Alla („Alles für alle“, vergleichbar mit der Interventionistischen Linken in Deutschland und Österreich) organisierten zum Beispiel auf nachbarschaftlicher Ebene Lebensmitteleinkäufe für gefährdete oder sich Quarantäne befindende Personen. In der zweiten Infektionswelle im Herbst gibt es weniger Projekte dieser Art. Insofern liefert die Pandemie nicht zuletzt auch Hinweise darauf, inwiefern die organisierte Linke ihre Handlungskraft aus Massenveranstaltungen wie Demonstrationen und Plena schöpft.

Fazit

Die Corona-Pandemie hat auch Schweden stark erschüttert. Angesichts der Tatsache, dass Schweden bei internationalen Vergleichen generell des öfteren aus dem Rahmen fällt, war der schwedische Sonderweg an sich nicht unbedingt überraschend. Die Strategiedebatte führte international vielerorts zu einem politisch geprägten Lagerdenken, wonach harte Maßnahmen mit aufgeklärter, humanistischer und linker Politik, sanftere Ansätze hingegen mit unwissenschaftlichem Rechtspopulismus verknüpft werden. Die in der Außenwahrnehmung anzutreffende Verortung Schwedens im letzten Feld ist bemerkenswert, führt außerhalb des Landes aber auch immer wieder zur Verklärung der schwedischen Strategie. Im Land selber wird die Frage, inwieweit der schwedische Weg durch die Pandemie eher als Erfolg oder eher als Havarie bewertet werden muss, als noch offen betrachtet. Das Urteil der Geschichte in dieser Frage dürfte nicht zuletzt das schwedische Selbstverständnis entweder nachhaltig bestärken oder erschüttern.