Kirgistan - Vom Corona-Kollaps zum Umsturz nach den Wahlen

Kirgistan

Staatliches Versagen bringt Solidarität an der Basis hervor

Bermet Borubajewa

Kirgistan ist das erste Land in Zentralasien, das sich 2010 als Republik mit einer parlamentarischen Regierungsform konstituiert hat. Parallel zum wachsenden Staatshaushalt stieg in den vergangenen Jahren auch die Auslandsverschuldung, wobei die Gefahr besteht, dass Kirgistan bei der Schuldentilgung in Zukunft auf massive Schwierigkeiten stößt.1 Ähnlich wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten machte auch das Gesundheitswesen einen schwierigen Veränderungsprozess durch. Noch vor nicht allzu langer Zeit gab es im ganzen Land nur sechzehn Apparate zur Durchführung einer Computertomographie - zwölf davon in der Hauptstadt Bischkek und vier in Osch.2 Allein dieses Beispiel illustriert deutlich, welchen Herausforderungen sich Kirgistan während der COVID-19-Pandemie stellen musste.

Einschränkungsmaßnahmen und Hilfspakete

Am 18. März registrierten die Behörden bei drei Männern, die aus Saudi Arabien zurückgekehrt waren, die ersten Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus. Eine Woche später verhängte die Regierung den Notstand. Die meisten Einschränkungen galten bis zum 10. Mai. Bis Ende Juli steckten sich knapp 36 000 Menschen an, was in etwa dem Infektionsgeschehen in anderen Ländern der Region entspricht. Allerdings ließ sich im „Schwarzen Juli" innerhalb von nur zwei Wochen eine rasante Zunahme von Erkrankungen beobachten, so dass in diesem Zeitraum während der ersten Corona-Welle die meisten Todesfälle verzeichnet wurden.

Und wie verhielt sich der Staat in dieser Situation? Anstatt der Bevölkerung unterstützend beizustehen, verabschieden sich die Parlamentsabgeordneten in einen bezahlten Urlaub. Die in dieser schwierigen Lage im Stich gelassene Gesellschaft reagierte auf dieses Versagen der Politik mit Solidarität und selbstlosem Einsatz.

Trotzdem wurden erste Hilfspakete für Firmen und Privathaushalte bereits Ende März beschlossen. Der Regierung gelang es für die Umsetzung von Anti-Corona-Maßnahmen Mittel aus alternativen Quellen zu akquirieren, nämlich von lokalen Unternehmen und Privatpersonen. Auf einem Sonderkonto gingen über 300 Millionen Dollar ein, wobei ein Großteil davon (170 Millionen Dollar) für Lohn- und Rentenfortzahlungen verwendet wurden, während bis Juli gerade mal 2,2 Millionen Dollar in die Pandemie-Bekämpfung flossen.3 Zudem erhielt Kirgistan finanzielle und humanitäre Unterstützung in Form medizinischer Geräte, Test-Kits und dergleichen mehr aus den USA (USAID), von der Islamischen Entwicklungsbank und zahlreichen weiteren internationalen Organisationen.4 Durch Anleihen und Kredite konnte beispielsweise der Kauf von Medikamenten finanziert werden. Dadurch erhöhte sich das Haushaltsdefizit auf etwa 500 Millionen Dollar, was zu einer Krise vergleichbar mit der Situation in den 1990er Jahren führen könnte.5

Im Wesentlichen wurden die Anti-Corona-Maßnahmen in Kirgistan von staatlichen Stellen erarbeitet, die den Hauptakzent auf einen Lockdown legten. Zu Beginn erwiesen sich scharfe Grenzkontrollen als durchaus effektiv. Doch gelang es dem Staat nicht, das Gesundheitssystem den Anforderungen einer Epidemie entsprechend anzupassen. Weder zeigten die Desinfizierung von Straßen oder andere von Russland abgeschauten, ähnlich nutzlosen Vorkehrungen irgendeine Wirkung, noch half der Umgang mit der Pandemie nach chinesischem Vorbild. In Anlehnung an die Vorgehensweise des östlichen Nachbarlandes verhängte die kirgisische Regierung Verbote, Einschränkungen und andere Maßnahmen - allerdings ohne klar durchdachte logische Abfolgen, dafür aber meist auch ohne erwähnenswerten finanziellen Aufwand. Letztlich handelte es sich bei der kirgisischen Vorgehensweise um eine Kombination aus den Ansätzen Chinas und Russlands. Russische Methoden fanden immer dann Verwendung, wenn chinesische nur schwer umsetzbar schienen, da Chinas Machtapparat deutlich hierarchischer angelegt ist und damit über bessere Durchsetzungsmöglichkeiten verfügt. In der Konsequenz ergaben sich Mischformen: Zwar war der Staat gewillt, die Bewegungsfreiheit und Kontakte einzuschränken, aber nicht einmal in der Lage, digitale Ausgangsgenehmigungen zum Verlassen der Wohnung einzuführen. Stattdessen konnte man den Grund für das Verlassen der Wohnung auf einem Stück Papier festhalten und sich damit den ganzen Tag auf der Straße aufhalten.

Ein überfordertes Gesundheitssystem und zweifelhafte Informationspolitik

Nach Ansicht von Gulmira Asanbekowa, der Koordinatorin staatlicher mobiler Einsatzgruppen zur Bekämpfung des Coronavirus, beschränkten sich offizielle Maßnahmen zunächst auf wechselnde bürokratische Vorgaben zur medizinischen Behandlung und Dokumentation.6 Einige Vorschriften brachten sogar ein erhöhtes Infektionsrisiko mit sich, wie etwa die Beschränkung der Arbeitszeiten des öffentlichen Nahverkehrs und Einkaufsläden auf wenige Stunden am Tag, was zu unnötigen Menschenansammlungen geführt hatte. Ein Strategiewechsel erfolgte erst, als die Todeszahlen anstiegen und auch die Neuinfektionen weiter zunahmen. Nach den Lockerungen im Sommer legte das Gesundheitsministerium Informationen offen, dass ein Teil der Erkrankten nicht stationär behandelt wurde. In Kirgistan existiert nur ein einziges Infektionskrankenhaus. Neue provisorische Kliniken für Corona-Patient*innen wurden schließlich überwiegend in nicht beheizten Schulgebäuden eingerichtet. Allerdings existieren weiterhin nur begrenzte Möglichkeiten, Verdachtsfälle getrennt unterzubringen. Zumindest jedoch begann die Regierung endlich mit der Bereitstellung von Mitteln für den Kauf von Beatmungsgeräten und weiterer medizinischer Geräte. Nichtstaatliche Organisationen richteten ihre Bemühungen auf prophylaktische Maßnahmen. Vor diesem Hintergrund erwies sich der Einsatz mobiler Ärzteteams als optimale Variante. Sie versuchten, Ausbruchsherde zu lokalisieren und durch häusliche Quarantäne eine weitere Verbreitung des Virus zu unterbinden.

Da staatliche Stellen Informationen zurückhielten, richteten Bürgeraktivist*innen eigene Nachrichtenportale ein, auf denen sie über das Infektionsgeschehen berichteten. Viele Fragen blieben zunächst unbeantwortet. So tauchten etliche Infektionsfälle in der Statistik gar nicht erst auf. Es zeigte sich, dass die Zahl der Corona-Patient*innen in stationärer Behandlung praktisch identisch war mit den Angaben über generell an COVID-19 Erkrankten. Demnach wurden nur Patient*innen mit schwerwiegenden Symptomen erfasst, nicht aber jene, bei denen die Krankheit sich nur in schwacher Form bemerkbar machte.7 Mitte Juli veranlasste die Regierung die Zusammenfassung sämtlicher statistischer Angaben über bestätigte Infektionsfälle, positive und letale Krankheitsverläufe und nicht klinisch behandelte Lungenentzündungen ohne Corona-Test oder mit negativem Testergebnis. Dennoch gab das Gesundheitsministerium für die Allgemeinheit dringend relevante Informationen weiterhin nicht heraus, was Aktivist*innen zu einem Protestschreiben bewegte.8 Darin forderten sie detaillierte Angaben über Corona-Todesfälle, aufgeschlüsselt nach Alter und anderen Kriterien, Zahlen über in Quarantäne isolierte Verdachtsfälle und Patient*innen auf den Intensivstationen. Außerdem forderten sie Aufklärung zum Infektionsgeschehen unter Beschäftigten im Gesundheitssystem. Noch weniger Transparenz legte die Regierung in Bezug auf die Ausgaben für die Pandemie-Bekämpfung an den Tag.

Demonstrationsverbote statt Versammlungsfreiheit

Unter dem Vorwand notwendiger Corona-Eindämmungsmaßnahmen richtete der Staat umso mehr seine Anstrengungen auf die Kontrolle und Niederschlagung von Bürgerinitiativen. Eine für den 8. März, dem internationalen Frauentag, angemeldete Demonstration wurde verboten.9 Gleiches traf auf Proteste von Bewohner*innen eines Hauses zu, die wegen Verschulden des Bauträgers ohne Strom, Wasser und Gas in ihren Wohnungen festsaßen. Im schriftlichen Ablehnungsbescheid für den 8. März begründete die zuständige Behörde ihre Entscheidung mit der Notwendigkeit, die Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Per Gerichtsbeschluss wurde ausgehend von diesem Fall sogar ein generelles Versammlungsverbot bis zum 1. Juli erlassen, obwohl Gerichte gar nicht über solch weitreichende Kompetenzen verfügen und nur Entscheidungen über konkrete Veranstaltungen treffen dürfen. Die Demonstration am 8. März war dazu gedacht, öffentliche Aufmerksamkeit auf das Gewaltproblem im Land zu lenken, denn in den letzten Jahren lässt sich in Kirgistan eine Zunahme von Gewalt gegen Frauen beobachten, weshalb die Zivilgesellschaft Alarm schlägt. Doch statt sich des Problems anzunehmen, verbietet der Staat diesem Thema gewidmete Kundgebungen und zensiert Ausstellungen, wie die Feminnale Ende 2019 in Bischkek. Unbekannte griffen Aktivistinnen, die sich am 8. März auf die Straße gewagt hatten, an, und lösten die Aktion durch ihr brutales Vorgehen auf. Die Polizei ließ den Angreifenden freie Hand und nahm schließlich etwa 60 Teilnehmende der Demonstration fest. Die Menschenrechtsaktivistin Dinara Oschurachunowa und der Abgeordnete Dastan Bekeschew gehen davon aus, dass es sich um eine gezielte Maßnahme und bei den Angreifenden um Polizeiangehörige handelte.10

Mit der Zuspitzung der Corona-Krise sorgte sich der Staat weniger darum, diese in den Griff zu bekommen, als möglichen Protesten vorzubeugen. In den vorangegangenen Monaten fanden bereits etliche Kundgebungen gegen Korruption und für Umweltschutz statt, deshalb eignete sich die Pandemie als willkommener Vorwand Versammlungsverbote durchzusetzen. Aus der Bevölkerung ertönten indes unterschiedliche Signale. Die einen riefen zu freiwilliger häuslicher Selbstisolation auf, während andere auf der Straße gegen die Einrichtung von Quarantänezentren protestierten.11 Auch verweigerten sich im überwiegend muslimisch geprägten Kirgistan einige religiöse Gruppierungen den gebotenen Anti-Corona-Maßnahmen, was bei Beerdigungen zu Massenaufläufen führte. Im Großen und Ganzen überwiegt in der Gesellschaft passiver Widerstand gegen die geltenden Eindämmungsmaßnahmen, da das Vertrauen in die Medien und die Regierung fehlt. So bleiben Händeschütteln, Umarmungen und Küsse bei Begrüßungen an der Tagesordnung - ärztlichen Empfehlungen zur Einhaltung sozialer Distanz zum Trotz.

Reaktionäre Kräfte kommen an die Macht

Schon im Laufe des Jahres zeichneten sich einschneidende Veränderungen im politischen Gefüge ab. Zum Umbruch kam es jedoch erst nach den Parlamentswahlen vom 5. Oktober 2020, als reaktionäre Kräfte die Macht an sich rissen, indem sie den weitverbreiteten Ärger über offensichtliche Wahlfälschungen zu ihren Gunsten nutzen. Als sich nach Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse herausstellte, dass drei regierungsnahe Parteien die absolute Mehrheit errungen hatten, kam es in der Hauptstadt Bischkek zu Protesten. Zunächst unterstützte die Zivilgesellschaft die Kundgebungen oppositioneller Parteien, aber am Abend nach der Wahl trugen organisierte Gruppen zur Radikalisierung der Lage bei. Es kam zur Stürmung des Regierungssitzes und später zur Befreiung einiger Vertreter der alten Garde , die ihre Machtposition vor einigen Jahren verloren hatte, aus dem Gefängnis. Einer von ihnen, Sadyr Schaparow, übernahm zunächst den Regierungsvorsitz und im Anschluss kommissarisch das Präsidentenamt. Nun ist eine Verfassungsänderung geplant, die eine Rückkehr zum Präsidialsystem ermöglichen soll. Die neuen Machthaber tun sich durch nationalistische Rhetorik hervor und planen, nichtstaatliche Medien zu verbieten. Parlamentsneuwahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

Ökonomische Folgen

In der Tourismusbranche, der Gastronomie und der Freizeitindustrie führte die Pandemie zu besonders schweren ökonomischen Einbußen. Die Regierung verfügte über den Aufschub von Steuerzahlungen und initiierte Unterstützungsprogramme für Unternehmer*innen, während es für Geringverdiener*innen und medizinische Angestellte keinerlei Hilfspakete gab und günstige Kredite für Privatpersonen nicht vorgesehen waren. Betriebsbelegschaften wurde ein Kündigungsverbot auferlegt, während Unternehmen ihrerseits Beschäftigte entlassen durften - und dies massenweise umsetzten. Arbeitslosenhilfe beträgt in Kirgistan umgerechnet etwa drei Dollar pro Monat. Da jedoch viele Menschen auf Märkten oder im Dienstleistungssektor Tagelohn erhalten und somit kein offizielles Arbeitsverhältnis eingehen, konnten sie bei Verdienstausfällen kein Recht auf staatliche Unterstützung geltend machen.

Solidarität

Stattdessen nahmen viele freiwillige Helfer*innen die Initiative in ihre Hand und verteilten Essen an Bedürftige, besorgten Medikamente und Schutzmasken. Es bildete sich sogar eine Gruppe, die eigene Beatmungsgeräte entwickelte. Außerdem entstand eine anfangs auf ehrenamtlichem Engagement basierende Info-Hotline, die das medizinische Personal entlasten sollte. So konnte ein Verteilungsplan realisiert werden, um verschiedene Kategorien von Anrufenden mit leichten oder mittleren Krankheitssymptomen schnell und effektiv über mobile ärztliche Brigaden zu versorgen oder bei schweren Verläufen an Intensivstationen zu vermitteln. Bis zu hundert Freiwillige hielten das System am Laufen, bis es schließlich in die Trägerschaft des Gesundheitsministeriums übergeben wurde.

Außerdem entstanden unterschiedliche kreative Umgangsformen mit den neuen Gegebenheiten. So reagierten Kulturschaffende mit Satire auf die oben beschriebene finanzielle Ungleichbehandlung. Mit verschiedenen Mitteln machten sie außerdem auf ihre prekäre Lage aufmerksam, die sich durch die Pandemie in ganz Zentralasien deutlich verschärft hat. Eine Kunstgruppe aus Kirgistan gründete eine spezielle Plattform zum Verkauf von Kunstwerken zur Unterstützung von Kreativen und erwirtschaftete innerhalb der ersten drei Wochen bis zu 15.000 Dollar.12 Die Schule für moderne Kunst ArtEast funktionierte weiter und die Arbeiten einiger Studierender wurden im Schweizer Kunstraum Dreiviertel in Bern gezeigt.

Fazit

Generell lässt sich feststellen, dass die Pandemie überaus positive Impulse für solidarisches Handeln lieferte. Es fällt auf, dass viele Menschen sich nicht mehr damit abfinden wollen, von den alten Eliten regiert zu werden und selbst Initiative ergreifen. Während der politischen Unruhen nach den Parlamentswahlen taten sich Menschen zusammen, um für die Sicherheit auf der Straße zu sorgen oder Unternehmen und Betriebe vor Plünderungen zu schützen. Das zeigt, dass sie bereit sind, für sich selbst einzustehen. Dennoch sind die Voraussetzungen für einen radikalen gesellschaftlichen Wandel nicht gegeben. Vor dem Hintergrund der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung gewinnen reaktionäre und nationalistische Kräfte eine immer stärkere Machtposition. Im entscheidenden Moment gelang es nicht, dem etwas entgegenzusetzen. Insofern ist zu erwarten, dass sich die Widersprüche in der kirgisischen Gesellschaft in absehbarer Zeit weiter zuspitzen - bis hin zu offen ausgetragenen Auseinandersetzungen. Andererseits finden sich dann sicherlich auch neue Akteur*innen, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen.

 

 

           

6 Interview Borubajewa am 3. November 2020
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