Libanon - Leben und Aktivismus in Krisenzeiten

Libanon

Libanon - Leben und Aktivismus in Krisenzeiten

Ginan Osman

„This is not Lebanon“ lautete der Titel eines Kunstfestivals in Frankfurt am Main, in dem verschiedene kontemporäre Künstler*innen aus dem Libanon das vergangene Jahr audiovisuell aufbereitet haben. Aus verschiedenen Blickwinkeln erzählen die Kunstwerke die Geschichte eines Staates, der sich binnen weniger Monate dramatisch verändert hat. Dabei verarbeiteten die Künstler*innen die Krise auf einer persönlichen Ebene, die sonst im distanzierten politischen Diskurs zum Libanon selten gesehen wird. Sie schufen so Räume, um die Komplexität der Zusammenhänge zu beleuchten und neu zu verhandeln. In diesem Beitrag intendiere ich ebenfalls bestehende Diskurse neu zu verhandeln und werde die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre einordnen. Hierbei liegt mein Fokus auf politischer Organisation in Krisenzeiten und Ansätze solidarischer Praxis feministischer Aktivist*innen in Beirut.

Von der Protestwelle in die Krise

Wie in vielen anderen Ländern auf der Welt wehte im Herbst des Jahres 2019 ein revolutionärer Wind in den Straßen des Libanon. Die Aufstände der „Oktoberrevolution“, wie sie im Libanon genannt wird, richteten sich primär gegen die vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Land und waren in ihrer Größe, ihrem Auftritt, sowie ihren Forderungen historisch einmalig seit Ende des Bürgerkrieges. Den Protesten vorangegangen war eine Reihe großer Waldbrände, die in kurzer Zeit enorme Waldflächen im Libanon und in Syrien zerstörten. Aufgrund von fehlender Ausrüstung konnten Einsatzkräfte das Feuer nicht unter Kontrolle bringen und vielerorts lag es an der lokalen Bevölkerung, zu retten, zu löschen, zu bergen. Die Trauer und Wut über die verlorene Natur und Unfähigkeit des Staates gepaart mit der kollektiven Empörung über die voreilige Ankündigung der Regierung einer WhatsApp-Steuer mit dem Ziel, die leeren Staatskassen zu füllen, brachte das Fass letztendlich zum Überlaufen und dienten als Anstoß für die Proteste.

Bemerkenswert an den Protesten war ein kollektives Verlangen nach einer grundlegenden Veränderung des libanesischen politischen Systems. Die Protestierenden sahen das Hauptproblem im politischen System selbst, geführt von ehemaligen Warlords des Bürgerkriegs, die das Land mit einer Mischung aus Konfessionalismus, Klientelismus und Korruption kaputt regiert haben. Das jahrzehntelange Missmanagement der politischen Klasse führte letztendlich zu der verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise, die heute im Libanon herrscht. Die Menschen auf der Straße erahnten diese Entwicklung bereits 2019, als sich die ersten Anzeichen des wirtschaftlichen Kollaps erkennen ließen. Schon damals begann die Entwertung der lokalen Währung, der libanesischen Lira, dazu kamen Massenarbeitslosigkeit und eine stetige Verteuerung der Lebenshaltungskosten.

Aufgrund der breiten Unterstützung in der Bevölkerung waren die Proteste ein Moment, in dem das Unmögliche, die Schaffung einer alternativen Realität, eine Änderung des politischen und wirtschaftlichen Systems und eine umfassende Gesetzesreform, plötzlich möglich erschienen. Monatelang verharrten die Massen auf den öffentlichen Plätzen des Landes, blockierten Durchgangsstraßen und klärten über die Missstände im Land auf. Doch je länger die Proteste anhielten, desto brutaler reagierte der Staat, zum Beispiel mit dem exzessiven Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentierte dazu den intensiven Einsatz physischer Gewalt gegen Demonstrierende durch die Sicherheitskräfte sowie häufige Festnahmen.

Corona und Kollaps

Der 06. März 2020 markierte einen abrupten Wendepunkt. Premierminister Hassan Diab verkündete an diesem Tag offiziell den Staatsbankrott und gleichzeitig die bevorstehenden Pandemievorkehrungen, eine Ankündigung die den Verlauf der Monate darauf maßgeblich beeinflusste. Das Land ging in einen monatelangen harten Lockdown inklusive strenger Ausgangssperren. Dies war vor allem eine effektive Methode, die Proteste einzudämmen und erschwerte dazu die Möglichkeiten der politischen Organisierung und des Aufbaus einer nachhaltigen politischen Bewegung. Während die Pandemie und die Wirtschaftskrise die kollektive Frustration über den Staat weiter verstärkt hat, hat sie paradoxerweise die Abhängigkeit von ihm erhöht.

Mit dem Lockdown und der damit einhergehenden weitreichenden Einschränkung des wirtschaftlichen Geschehens brach auch das Finanzsystem zusammen, wobei die Landeswährung gegenüber dem Dollar rapide an Wert verlor, was zu einer Hyperinflation und stetig steigenden Preisen auf Güter und Dienstleistungen führte. In der Folge stiegen die Arbeitslosenzahlen, die Kaufkraft sank und die Armutsquote stieg, sodass im Mai 2020 über die Hälfte der Bevölkerung - bezogen auf ihr Einkommen - in Armut lebte. Inmitten der globalen Pandemie hat die Krise auch vor dem stark privatisierten Gesundheitssystem nicht halt gemacht. Landesweit wurden Operationen auf Notfälle beschränkt. Im Juli 2020 hat dazu das Krankenhaus der renommierten privaten Amerikanischen Universität (AUB) ohne Vorankündigung und unter verstärkter Militärpräsenz 800 Mitarbeiter*innen fristlos entlassen. Als einen Monat später, am 4. August 2020, die größte nicht-nukleare Explosion in der Geschichte am Hafen von Beirut die halbe Stadt verwüstete, über 200 Menschen tötete, mehr als 7000 verletzte und mehr als 300.000 Menschen schlagartig wohnungslos machte, fühlte es sich an, als wäre dem Land der letzte Atem geraubt worden. Einige der ohnehin überlasteten Krankenhäuser wurden teilweise zerstört oder erlitten schwere Schäden. Am Krankenhaus der AUB strömten die kurz zuvor entlassenen Mitarbeiter*innen in Massen zurück, um nun als Freiwillige, zu helfen.

Ob bei den Waldbränden, dem selbstverschuldeten Staatsbankrott oder bei der Explosion – ein Aspekt wurde in den vergangenen zwei Jahren immer wieder deutlich: Der Staat kommt seiner Fürsorgepflicht nicht nach und überlässt die im Libanon lebende Bevölkerung ihrem Schicksal. Die beschriebenen Ereignisse sind dabei keine Ausnahmeerscheinungen, sie sind vielmehr ein integraler Bestandteil des politischen Systems, gegen das so viele noch vor kurzem auf der Straße protestiert haben. Heute ist die Situation angespannter als im vergangenen Jahr. Die Armutsquote liegt mittlerweile bei etwa 80%, seit Monaten herrscht eine dramatische Medikamentenknappheit, es gab lange kaum Benzin und der Strom wird eher sporadisch angestellt. Mehr als ein Jahr nach der Explosion vom 4. August 2020 kämpfen die Familien der Opfer noch immer für Gerechtigkeit mittels eines fairen Gerichtsprozesses, der die Hintergründe der Explosion ernsthaft aufklärt. Vor allem fordern sie, dass die politisch Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Statt von staatlicher Seite alles für die Aufklärung der Geschehnisse und Entschädigung der Opfer zu tun, wird die Gerichtsverhandlung aktiv seitens wichtiger politischer Akteure blockiert und statt mit Mitgefühl begegnen die Sicherheitskräfte den demonstrierenden Familien regelmäßig mit brutaler Polizeigewalt.

Alte Probleme, neue Solidaritäten?

Gleichzeitig war in dieser Zeit zu beobachten, wie sich alternative Fürsorgestrukturen entwickelten, besonders unter marginalisierten Bevölkerungsgruppen, wie Geflüchteten, Gastarbeiter*innen und queeren Menschen. Während der Protestwelle waren es vor allem feministische Aktivist*innen, die in ihren kreativen Protestrufen auf Demonstrationen, Solidaritätsbekundungen mit marginalisierten Gruppen aussprachen. Sie präsentierten auf kreative Weise eine intersektionale Analyse, die aufzeigt wie unterschiedliche Gruppen von denselben staatlichen Machtstrukturen unterdrückt werden. So zeigten sie beispielsweise, wie die gesetzlichen Regelungen zur libanesischen Staatsbürgerschaft mit dem staatlichen Konfessionalismus, institutionalisiertem Rassismus und Sexismus zusammenhängen und so gleichzeitig libanesische Frauen, geflüchtete Frauen und Gastarbeiterinnen in ihren Rechten auf Arbeit oder auf die Vererbung ihrer Staatsbürgerschaft bedeutend einschränken. Mit dem Fortschritt der Krise wurden aus diesen diskursiven Solidaritätsbekundungen konkrete Taten durch Hilfsaktionen und der Zusammenarbeit verschiedener feministischer und antirassistischer Organisationen und Initiativen. Erwähnenswert ist an dieser Stelle die besondere Arbeit von Egna Legna, einer lokalen feministischen, antirassistischen Organisation, gegründet und geleitet von äthiopischen Frauen, die sich hauptsächlich für die Belange von migrantischen Hausangestellten, sogenannten „Migrants Domestic Workers“, im Libanon kümmern. Während diese nämlich im vergangenen Jahr besonders unter der Krise litten, waren es Organisationen wie Egna Legna, die Schutz und Hilfe boten. Während der Staat die im Land lebende Bevölkerung im Stich ließ, griffen nun also alternative Strukturen, Menschen, die teilweise alles verloren haben, zu unterstützen.

Schock, Schmerz, Frustration und Hoffnungslosigkeit haben in den vergangenen beiden Jahren das Leben im Libanon bedeutend geprägt. Gleichzeitig war es immer wieder die Zivilgesellschaft die gezeigt hat, wie eine Alternative aussehen könnte. Die Zukunft des Libanon war selten so ungewiss wie heute. Weiterhin darauf zu hoffen, dass die korrupte politische Klasse für eine Verbesserung der Umstände sorgt, ist nicht nur naiv, sondern brandgefährlich. Stattdessen gilt es nun, solidarisch zu sein mit der Zivilbevölkerung im Land, die den Glauben an einen anderen, lebenswerten Libanon nie aufgegeben hat.