Covid-19 in Italien, der nie endende Ausnahmezustand und die Ausgrenzung von Widerspruch

Impfkampagne in Italien, Ort:  Bergamo, Lombardei.

Covid-19 in Italien, der nie endende Ausnahmezustand und die Ausgrenzung von Widerspruch

Mary Rizzo

Impfungen werden in Italien weithin als nützlich und notwendig angesehen, aber es kommt zu wachsendem Unmut, da jede Kritik und jeder Dissens gegenüber der öffentlichen Politik unterbunden oder dämonisiert wird. Die einst progressiven Zukunftsvisionen für positive Transformationen einer von der Pandemie hart getroffenen Gesellschaft sind so gut wie verloren gegangen, da die Sorgen um den fehlenden Pluralismus in der politischen Debatte und die Fragilität der Demokratie in einem hegemonialen System konkrete Gestalt annehmen.

Aus dem Covid-Wrack kriechen „um jedem Preis“

Zwei Jahre nach dem Ausbruch von Covid-19 und seiner schnellen Verbreitung in Italien befindet sich das Land noch immer im Ausnahmezustand, obwohl seine Impfkampagne deutlich schneller voranschreitet als in anderen Ländern. Während Premierminister Mario Draghi die Möglichkeit nutzte, sowohl beim Europäischen Rat als auch bei den G20 mit der Wirksamkeit der Regierungspolitik zu prahlen, könnte die vierte Corona-Welle einige negative Überraschungen bereithalten. So behält sich der italienische Gesundheitsminister die Option einer Verlängerung des Ausnahmezustands und anderer heiß umkämpfter restriktiven Maßnahmen bis ins Frühjahr vor. All dies geschieht inmitten des Verabschiedungsprozesses eines Haushaltsgesetzes, das weitere Beschränkungen der Rechte für Arbeitnehmer*innen vorsieht und das Renteneintrittsalter schrittweise erhöht. Ein Thema, an dem die reformistische Linke erbärmliches Desinteresse zeigt und das erschreckenderweise bei den Gewerkschaften kaum einen Aufschrei verursacht hat.

Im Zuge der Impfkampagne erfolgte seit Juli 2021 eine schrittweise Lockerung der Verbote für die meisten Sport-, Gewerbe-, Freizeit- und Kulturaktivitäten. Von Anfang März bis Mitte Mai 2021 wurde eine Politik der vollständigen Schließung durchgesetzt, anstatt sich für die von der WHO empfohlenen Präventiv- und Hygienemaßnahmen zu entscheiden.

Als ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank und Mitglied der „Group of Thirty“ (G 30) hat sich Draghi klar dazu geäußert, welche Arbeitnehmer*innen entbehrlich sind. Für den Think Tank, der mit der Ernennung seines hochrangigen Mitglieds Draghis zum Ministerpräsidenten von einer Beraterrolle zu einer politischen Entscheidungsträgerin geworden ist, lautet die Post-Covid-19-Philosophie, dass nicht alle von der Pandemie betroffenen Unternehmen gerettet werden und dass die Auswahl der Empfänger*innen öffentlicher Fördermittel allein anhand ihres zukünftigen Profitpotenzials getroffen werden sollen. Die beiden italienischen Regierungen, die während der Pandemie an der Macht waren (zu Beginn der Pandemie unter Conte und seit dem 13. Februar 2021 unter Draghi) haben jeweils wirtschaftliche Hilfspakete beschlossen, die die Situation der meisten betroffenen Akteure erleichtern sollten. In Wirklichkeit waren die Hilfen nicht ausreichend, um auch nur die laufenden Ausgaben zu decken (im Hotel- und Gaststättengewerbe wurden beispielsweise von 243 Milliarden Euro Verlust nur 29 Milliarden, also nur 7 Prozent finanziert). Der Zugang zu Hilfen wurde über die Dauer der Epidemie zunehmend eingeschränkt. Um wahllose Auszahlungen zu vermeiden, wurden bürokratische Hürden errichtet, die viele davon abhielten, diese zu beantragen. Dies führte dazu, dass einige Unternehmen nach Aufhebung der Schließungen durch die Regierung nicht einmal über eine Wiedereröffnung nachdenken konnten, geschweige denn einen Gewinn aus ihren Aktivitäten hätten erzielen können.

Trotz all dieser Nöte von direkt betroffenen Arbeiter*innen und der im Allgemeinen betroffenen Bevölkerung bleibt die klare programmatische Tendenz der politischen Verantwortlichen bestehen, nur profitversprechende Wirtschaftsbereiche zu unterstützen. Statt die aus der Krise entstehenden sozialen Fragen anzugehen, steht Covid-19 als vermeintliches Hauptproblem weiterhin im Zentrum der öffentlichen Politik und des Diskurses. Der Staat schrieb sich die Erfolge der Impfkampagne und des harten Lockdowns zu, während er alle Misserfolge auf das Handeln einzelner Personen zurückführte. Zudem schob er der Gemeinschaft von Impfgegner*innen und dem sie weiterhin definierenden verschwörerischen Denken alle Kritik am Status-Quo zu- dabei kritisieren nicht nur sie den Verlauf der schlecht geführten Impfkampagne, sondern auch Wissenschaftler*innen und Personen der öffentlichen Verwaltung. Hinzu kam, dass der außerordentliche Notfallkommissar, Armeegeneral Paolo Figliuolo, der für die Umsetzung und Koordination der notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung des epidemiologischen Notfalls verantwortlich ist, von Woche zu Woche widersprüchliche Hinweise zum verfügbaren Impfstoffe gab. Das plötzliche Ausscheiden von Impfstoffen wie es der Fall mit AstraZeneca war, welches bereits an Millionen ausgegeben wurden, und dann – nicht nur in Italien- aus dem Verkehr gezogen wurde, verursachte zusätzliche Verwirrung, Angst und Zögern in der italienischen Öffentlichkeit.

In Italien formiert sich derzeit eine ausgewachsene Protestbewegung, gegen die das Innenministerium seit dem 12. November 2021 hart durchgreift: „Von morgen an, werden alle Märsche verboten - nicht nur die der Impfgegner*innen“, lautete die Ankündigung von Carlo Siblia, Unterstaatssekretär des Ministeriums, wobei Sitzstreiks in Gebieten abseits der Stadtzentren weiterhin erlaubt sein werden. Diese Entscheidung zeigt die Verschmelzung zweier unterschiedlicher Themen: Protest gegen die Impfung und Protest gegen andere wegen der Pandemie eingeführte Maßnahmen sowie die Fortsetzung des Ausnahmezustands. Widerstand dagegen regt sich nicht nur innerhalb der Fraktion der Impfgegner*innen oder den faschistischen Bewegungen, die vor allem in Rom massive Präsenz zeigen. Die Kritik gegen die Maßnahmen ist weitaus diversifizierter und demokratischer, als es in den Mainstream-Medien erscheint. Der Protest seitens der anarchistischen und antifaschistischen Bewegungen sowie der reformistischen und revolutionären Linken kommt in diesem Narrativ überhaupt nicht vor.

Das Parlament scheint zu akzeptieren, dass die Vorgaben des Premierministers „um jeden Preis“ zwingend ist, um die Gesundheit und Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Somit sind Debatten von vornherein ausgeschlossen. Im Großen und Ganzen haben die Mainstream-Medien und die Expert*innen der Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Politik treu die Regierungslinie bekräftigt. Dies trifft auch auf die meisten progressiven Medien zu. Diese zur Schau getragene Einigkeit wirkt koordiniert und harmonisch – viel mehr, als es in einem Land, das sich gefühlt im Zustand eines nicht endenden Wahlkampfs befindet, zu erwarten wäre.

„Das Problem Genossen*innen ist nicht, dass auch die Rechte da ist - das Problem ist, dass wir nicht da sind!“

Die Italiener*innen müssen die Worte von Umberto Eco im Hinterkopf behalten, dass Freiheit und Befreiung nie endende Aufgaben sind. Und das gilt auch in einem gesundheitlichen Notfall. In den vergangenen zwei dramatischen Jahren ist der fehlende Pluralismus in der politischen Debatte über Eindämmungs- und wirtschaftliche Aufschwungmaßnahmen spürbar, da sich Bürger*innen und Arbeitnehmer*innen aus der Politik ausgeschlossen fühlen. Aufgrund des Mangels an Kritik an der Regierungspolitik hat sich der Raum für Dissens über staatliche Maßnahmen an den linken und rechten „Rand“ verschoben, wodurch dieser dann leicht dämonisiert werden kann. Während ein Konsens darüber besteht, dass sich „alles geändert hat“ und eine Rückkehr in die Vergangenheit nicht in Frage kommt, sehen einige in dem, was sie als den „obsessiven Fokus der Regierung auf Sicherheit“ bezeichnen, weiterhin den Versuch der Regierung, Covid-19 als Ablenkungstaktik zu nutzen, um eine Politik zu erreichen, die ansonsten auf Widerstand stoßen würde: Mehr staatliche Kontrolle bei weniger sozialen Sicherheitsnetzen.

„Das Problem, Genoss*innen, ist nicht, dass es auch die Rechte gibt, das Problem ist, dass wir nicht da sind!“, drückt es ein linker Organizer aus und meint damit, dass die progressive und revolutionäre Linke (also Intellektuelle als auch Bewegungslinke) bei den Protesten als Individuen anwesend sind, aber keine aktive Rolle in der Organisierung der Straße spielen. Tatsächlich hat die Mehrheit der Demonstrierenden möglicherweise gar keine ideologischen Präferenzen, dennoch erwecken die Darstellungen der Regierung und der Mainstream-Presse den Eindruck, als handele sich um eine einheitliche Masse. Mehr noch: Wenn man, wie die Mehrheit der Italiener*innen, alle Nachrichten aus dem Fernsehen oder der Mainstream-Presse entnimmt, könnte man denken, dass hinter dem Dissens ein einziges faschistisches „Mastermind“ steckt. Dabei zeigt ein genauerer Blick ein ganz anderes Bild: der Kern der Proteste wurde tatsächlich von einer gewerkschaftlich organisierten sozialen Bewegung organisiert.

Im ständigen Strom der Fernsehdiskussionen kristallisiert sich eine einheitliche Linie ohne Abweichungen heraus: Nichts deutet darauf hin, dass die Umsetzung bestimmter Covid-19-Maßnahmen Probleme verursachen könnte. Viel mehr ist man damit beschäftigt, die Menschen, die sich Sorgen darüber machen, als das eigentliche Problem darzustellen. Wie der Soziologe Luca Fazzi feststellte: „Wenn in einer Demokratie betont werden muss, dass man der vorherrschenden Meinung zustimmt, um überhaupt das Recht zu haben, zu sprechen, ist dies ein Grund zur Besorgnis ... mit dem Ergebnis, dass das ureigentliche Prinzip der Dialektik zerstört wird, das die Grundlage jedes wirklich demokratischen Systems ist.“

Der Ausnahmezustand ist zum Normalzustand geworden

Die Regierung hat keine Impfpflicht eingeführt, möglicherweise aus Angst, kein probates Mittel im Umgang mit abweichenden Meinungen zu finden. Es könnte aber auch daran liegen, dass die Verfassung bei einer Impfpflicht eine Abstimmung im Parlament erfordert und ein Dekret des Premierministers – die Hauptregierungsform während der Pandemie- nicht ausgereicht hätte. Nur sehr wenige Politiker*innen wären bereit, das Risiko einzugehen, über ein so heikles und unpopuläres Thema offen im Parlament zu diskutieren. Ein Journalist des bedeutenden linken Webportals „Contropiano“ bewertete dieses Verhalten mit den folgenden Worten: „Eine Regierung, die ernsthaft um den Schutz ihrer eigenen Bürger*innen besorgt ist, würde keine Zweifel haben, sie würde [Impfungen] obligatorisch machen. Und sie würde [dafür] auch einen geringen Prozentsatz der Unbeliebtheit in Kauf nehmen (das sind 25% […]) [um die Bevölkerung zu schützen].“

Stattdessen wurde entschieden, den „Grünen Pass“ zu verlängern. Dies ist ein Dokument, das neun Monate gültig ist, wenn jemand geimpft ist, oder 48 Stunden nach einem negativen Abstrich für diejenigen, die nicht geimpft sind. Es wurde per Dekret und ohne demokratisches Verfahren oder öffentliche Debatte eingeführt. Von der Bevölkerung zunächst vor allem als unbequeme Einschränkung beim Zugang zu Restaurants und Freizeitaktivitäten angesehen, entpuppte es sich nach der verpflichtenden Einführung am 15. Oktober für alle Arbeitnehmer*innen auch als gefährliches diskriminierendes Instrument. Der „Grüne Pass“ ist kein medizinisches Dokument und kritische Fragen zu seiner Anwendung sind berechtigt, werden jedoch von der politischen Debatte ausgeschlossen. Allen Arbeitnehmer*innen ohne „Grünen Pass“ drohen Geldstrafen, Suspendierung und Gehaltsstopps. Ausländische Arbeitnehmer*innen laufen außerdem Gefahr, dass ihnen die Verlängerung ihres Aufenthaltstitels und die Arbeitserlaubnis verweigert werden. Die Anwendung des „Grünen Passes“ beinhaltet zudem Fragen der Verletzung der Privatsphäre. Italien wird „das einzige Land in der ‚entwickelten Welt‘ sein, das die Ausübung eines Berufes an die Ausstellung eines Passes bindet, der das Fehlen einer einzigen Krankheit bescheinigt“, beschrieb es der soziale Bewegungsforscher Niccolò Bertuzzi vier Tage vor Inkrafttreten der Regelung.

Andere in der Linken meinen, dass hinter der Einführung des „Grünen Passes“ ein ruchloses politisches Projekt steckt: „Zahlreiche Bürger*innen, die von der Krise erdrückt wurden und deren Äußerungen über erschwerte Lebensbedingungen […] zum Schweigen gebracht wurden, verstehen, dass die Unterwerfung unter ein Instrument, das nach willkürlichen Motiven trennt, wer ‚in‘ und ‚out‘ ist, die definitive Waffe ist, um allen Widerstand zu brechen.“ Die Einführung des „Grünen Passes“ anstelle einer Impfpflicht, „ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Gründe zu erklären“, wird in einem Leitartikel von MicroMega, einer führenden progressiven, nicht parteilich affiliierten Zeitschrift, auch als „listig, heuchlerisch und chaotisch“ bezeichnet.

Wenn es darum ginge, möglichst viele Menschen zu impfen, wurde in Italien bereits mehr oder weniger das vielerorts deklarierte Ziel der Herdenimmunität erreicht. Die eigentliche Frage ist, wie es die politische Klasse schaffen wird, unter Achtung der Menschen- und der politischen Rechte, mit der starken Ablehnung eines Teils der Bevölkerung gegenüber der „strafenden bürokratischen Kontrolle“ umzugehen.

Die Argumentation, dass ein effektiverer Weg zur Bekämpfung der Pandemie und zur Erhöhung der Impfbereitschaft darin hätte bestehen können, mit Aufklärung und Überzeugung vorzugehen, anstatt den „Grünen Pass“ aufzuzwingen, wird als nicht legitim erachtet. Dieser wird selbst von denjenigen, die sich für soziale Solidarität und Bioethik engagieren, als „notwendiger Strafzwang zur Impfung“ beschrieben (und dies obwohl der Widerspruch bestehen bleibt, den Menschen die Freiheit zu lassen, die Impfung zu verweigern). Die Bürger*innen erwarten, selbst während einer Gesundheitskrise, als handlungsfähige Wesen behandelt zu werden und dass demokratische Prozesse eingehalten werden und Kritik nicht zum Schweigen gebracht wird. Die Hegemonie der Institutionen stellt indes keine absolute Größe dar, da maßgebliche Persönlichkeiten außerhalb der Politik eben diese Politik in Frage stellen, darunter der Virologe Andrea Cristanti: „Nach zwei Jahren ist der Ausnahmezustand zum Normalzustand geworden, und das ist nicht akzeptabel. Es zeigt, dass sie uns [Virologen] nicht gut genug verstanden haben.“

Wer ist der Feind?

Trotz des anfänglichen progressiven und revolutionären Glaubens linker Bewegungen, dass die Pandemie zu Kooperation und einem wiederbelebten Gemeinschaftsgefühl führen würde, um dem gemeinsamen Feind (dem Virus) entgegenzutreten, war die Realität am Ende eine andere: der Staat, der ein geringes Maß an Vertrauen genießt (in einer Umfrage aus dem Jahr 2020 vertraute ihm nur jede dritte Person), übernahm die Rolle des alleinigen Vertreters des Allgemeininteresses der Gesamtgesellschaft. Diese Enttäuschung über eine verpasste Gelegenheit drückte die Aktivistin und Autorin Nicola Casale folgendermaßen aus:

„Um die Legitimität zurückzugewinnen, hat [der Staat] Maßnahmen ergriffen, bei denen die einzig mögliche Lösung der Beendigung der Pandemie darin bestand, die gesamte Verantwortung auf das individuelle Verhalten [Einzelner] zu übertragen; bis zu dem Punkt einer Phobie gegenüber einander, wobei jeder von der Möglichkeit terrorisiert wird, dass die*der Andere die*der Staatsfeind*in ist, bereit, sie*ihn anzugreifen, wenn die Regeln der sozialen Distanzierung nicht eingehalten werden. Das theoretische Potenzial der Community, das den Weg zu einer neuen Community des Klassenbewusstseins ebnen könnte, wurde sofort in die entgegengesetzte Richtung aufgelöst.“

Mit einem starken Glauben an die Notwendigkeit von Massenimpfungen hat die (reformistische und revolutionäre) Linke Politikansätze der Regierung zumindest teilweise unterstützt, doch war sie unfähig eine Alternative zu den lähmenden wirtschaftlichen Maßnahmen oder der widersprüchlichen staatlichen Vorgehensweise zu äußern. Faschistische Bewegungen hingegen - organisiert in Parteien und Bewegungen - sind begierig darauf, aus der Welle der Unzufriedenheit Nutzen zu schlagen. Sie versuchen, sich als „Organisatoren des Volkes gegen ein autoritäres System“ zu präsentieren, das keinen Dialog, geschweige denn eine offene Diskussion führe. Dissens in Zeiten von Covid-19 wird entweder als Privileg oder als abweichende Haltung bewertet. Es herrscht in der Bevölkerung eine beträchtliche politische Unzufriedenheit und das in einem Land, in dem die gebildeten Regierungen normalerweise nicht den Willen der Wähler*innen widerspiegeln, da Koalitionen geschmiedet werden ohne den Willen des Volkes zu beachten. Dies hat sich zuletzt in der rekordhaften niedrigen Wahlbeteiligung bei den Verwaltungswahlen im Oktober gezeigt.

Italiener*innen zeigte ein extremes Maß an Gehorsam und Regeltreue gegenüber dem strengsten Lockdown der Welt und brachten Opfer sowohl zum Wohle der Allgemeinheit, als auch zur Vermeidung einer Bestrafung. Doch im Laufe der Zeit wandelte sich das öffentliche Wohlwollen in Unzufriedenheit und wachsende Wut darüber, dass die Regierung die Indikatoren für diesen erforderlichen Gehorsam ständig ändert: Staatliche harte Lockdowns und Schließungen bis zur Impfung, selektive und willkürliche Schließungen und Sperren, Zugangsbeschränkungen in einigen geschlossenen Räumen (Grüner Pass) bis zur Erreichung von Herdenimmunität. Die Herdenimmunität, wie sie von der Kommission definiert wurde, um den Notfall zu bewältigen, wurde zunächst auf 70 % festgelegt, dann auf 85 %, später sogar auf 90 % und darüber hinaus. Die Politik hat alles getan, um den Einzelnen für die Verhinderung des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems, das durch Covid-19 auf eine harte Probe gestellt wurde, verantwortlich zu machen, außer das Problem auf struktureller Ebene zu lösen. Das würde bedeuten, die Kürzungen der öffentlichen Gesundheitsausgaben rückgängig zu machen, eine Modernisierung des Krankenhaussystems umzusetzen, Einstellung von mehr Gesundheitspersonal und Ärzten. Aber das würde einen Kurswechsel erfordern. In Italien ist das Gesundheitssystem nur dem Namen nach national, es ist in einundzwanzig verschiedene Systeme zersplittert, weshalb es auf politischer Patronage basiert und daher von Region zu Region extrem unterschiedlich funktioniert.

Die Lösung der Regierung: Verunglimpfung von Dissens

Demokratie bedeutet, dass die Freiheit des Einzelnen durch die kollektive Freiheit gefiltert werden muss, aber auch, dass die Freiheit der Gemeinschaft nur durch die Freiheit aller ihrer Mitglieder erreicht wird: In einer echten Demokratie wird nicht verlangt, dass jeder mit einer einzigen möglichen Weltanschauung oder Idee übereinstimmt, auch wenn diese Idee zum Gemeinwohl erhoben wird. Stattdessen müssen, solange wir uns in einer Demokratie befinden, die Gedanken aller respektiert und Meinungsverschiedenheiten zugelassen werden und insbesondere dürfen abweichende Meinungen nicht zum Schweigen gebracht, verunglimpft oder falsch dargestellt werden.

Zwei Jahre nach dieser Pandemie ist der Dialog zwischen verschiedenen Analysen auf manichäische Art zunichtegemacht worden. Es gibt keinen Mittelweg im öffentlichen Diskurs, obwohl jede Seite einige fundierte Punkte beisteuert, die angesprochen werden müssten.

Die Schwäche des Systems und seine Problematik im Umgang mit abweichenden Meinungen werden von allen Expert*innen und Journalist*innen kaum (wenn überhaupt) angesprochen. Jetzt sind wir am Siedepunkt angekommen und der einzige Ausweg besteht darin, dass die Regierungen die Zügel locker lassen, den Ausnahmezustand beenden und mit der demokratischen Bewältigung der Covid-19-Krise als Teil eines normalen Vorgangs einer pluralistischen Demokratie beginnen. Das heißt, dass sie mit ihren vollen Befugnissen handelt und nicht als ewiges Damoklesschwert, in dem Gehorsam erforderlich ist und Überzeugungsarbeit vermieden wird. Dann wird die Polarisierung ruckartig beendet, denn das eigentliche „Ding“, dass das System gegen „das Volk“ ausspielt, wird keinen Grund haben zu existieren. Gegenwärtig wird in Diskussionen die Kluft zwischen Staat und Bevölkerung ausgespart. Es würde bedeuten, dass die Regierung in Wirklichkeit nicht stark, sondern schwach ist und jedes Mal, wenn ihre Kontrolle zu stark in Frage gestellt wird, auf ein Monopol auf den Diskurs oder die Verunglimpfung von Dissens zurückgreifen muss.